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Wer bin ich?

  • Autorenbild: Carmen Riahy
    Carmen Riahy
  • 10. Feb.
  • 13 Min. Lesezeit

Eine Expedition zum eigenen Wesenskern


„Wer bin ich?“ Was für eine blöde Frage, denken Sie sich vielleicht. Als ob die Wissenschaft der letzten Jahrhunderte dieses Thema nicht ausführlich und detailreich genug behandelt hätte! Oder haben Sie sich diese Frage auch schon öfter gestellt?


Und was bewegt mich eigentlich, dieser Frage nachzugehen? Ich stehe doch mit beiden Beinen im Leben und kann im ersten Anlauf ganz klare Aussagen zu meiner Person treffen:

Ich bin Yogalehrerin, Mutter, Ehefrau; ich habe braune Haare, grün-braune Augen, bin meistens gut gelaunt und nett zu anderen, oft zu ungeduldig mit mir selbst und den Kindern. Ich mag es, in der Natur zu sein, lese gern und liebe Musik. Das bin ich also? Sagt dieses Sammelsurium von äußeren Merkmalen, Charaktereigenschaften und Rollen überhaupt etwas Wesentliches über mich aus?


Expedition zum eigenen Wesenskern
Expedition zum eigenen Wesenskern

Nähern wir uns dem Thema zunächst einmal ganz sachlich von wissenschaftlicher Seite. Der Forschung der letzten Jahrzehnte zufolge liegt alles glasklar auf der Hand:


Der Mensch besteht aus einem brilliant durch die Evolution entwickeltem Körper, der durch elektrochemische Prozesse im Gehirn immer genialere Denkleistungen vollzieht. Sämtliche Gedanken und Gefühle werden scheinbar durch biochemische Abläufe aus unserem Körper selbst herausprojiziert. Sobald unser Körper ablebt, stirbt somit auch jegliche Form von Bewusstsein.


Hören wir als Stimme dieses Menschenbildes Yuval Noah Harari, den bekannten Historiker, der sich mit der Geschichte, mit Technologie und mit der Zukunft der Menschheit beschäftigt:


„Als Wissenschaftler im Verlauf des letzten Jahrhunderts die Blackbox des Sapiens öffneten, fanden sie dort weder eine Seele noch einen freien Willen noch ein ‚Ich‘ – sondern nur Gene, Hormone und Nervenzellen, die den gleichen physikalischen und chemischen Gesetzen gehorchen wie der Rest der Wirklichkeit […]“(aus „Homo Deus“, C.H. Beck 2020)


Unsere von Technik und Wissenschaft durchzogene Welt scheint zu belegen, dass er Recht hat mit seiner Aussage. Warum sonst würde die moderne Medizin so gut funktionieren, wie sie funktioniert? Selbst psychische Dysfunktionen können heutzutage leicht mit der entsprechenden Tablette geheilt werden. Was sollte also mehr in uns sein als jederzeit wissenschaftlich erklärbare physische und biochemische Vorgänge? Der Mensch als eine Art Biocomputer – das macht Sinn. Oder wer wagt es hier Zweifel zu erheben?


Alle Zweifler, z.B. in den Kirchen und der spirituellen Szene, die weiterhin auf der Existenz der Seele beharren wirken heutzutage deplatziert und „ewig gestrig“; verzweifelte Gläubige, welche die Vorstellung vom Tod nicht anders ertragen können, als sich in Phantasien von der unvergänglichen Seele zu verlieren.


Und ich, was denke und glaube ich eigentlich? Wer oder was ist dieses ICH, das hier spricht? Wer oder was sind die Menschen um mich herum? Wohin blicke ich, wenn ich meinem Gegenüber aufmerksam in die Augen schaue? Ist das wirklich alles so einfach und mechanisch erklärbar?


Ich hege Zweifel. Starke Zweifel. Egal, wem ich in die Augen blicke: Niemals habe ich das Gefühl, einer Art Biocomputer gegenüberzusitzen. Da ist immer ein Mensch in seiner unendlichen inneren Weite, mit seinem ganz eigenen Wesen, in seinem riesigen inneren Universum. Ein Mensch, der Liebe fühlt und Wut, Freude und Traurigkeit, Angst und Hoffnung.

Selbstverständlich können jedem Gefühl ein biochemischer Prozess und verschiedene Reaktionen (z.B. schneller Herzschlag bei Freude oder Angst) zugeordnet werden. Aber es bleibt für mich immer ein unerklärbarer Rest: Es gibt keine einzige wissenschaftliche Erklärung, die mir mein Gegenüber in seinem ganzen Sein jemals entschlüsseln und somit vollkommen sichtbar machen kann. Dies lässt mich vermuten, dass es mehr gibt als den rein materiellen Körper.


„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“, heißt es schon im „Kleinen Prinzen“.

Dieses Zitat impliziert, dass wir ungeeignete Messwerkzeuge benutzen, wenn wir „das Wesentliche“ erforschen und erkennen wollen: Mit technischem Werkzeug, das der sichtbaren, materiellen Welt angehört, werden wir auch nur auf Materielles stoßen. Es gilt also das Werkzeug auszutauschen: Das Herz gegen das Auge, sprich: die achtsame innere Wahrnehmung gegen das Röntgengerät, das Elektroenzephalogramm etc.


Aber was ist gemeint mit „dem Wesentlichen“? Nach was gilt es Ausschau zu halten?

Lassen Sie uns sehen, was die Yogaphilosophie dazu zu sagen hat:



Die 3 Körper und 5 Hüllen


Eine - für mich - sehr plausible Sicht auf die Beschaffenheit des Menschen liefern die Upanischaden (ca. 3000 Jahre alte mündliche Überlieferung; ca. 700-200 v. Chr. niedergeschrieben; Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus und Bestandteil des Veda).

In der Taittiriya-Upanischad wird ein umfassendes Modell vom Menschen entworfen, das unsere Spezies wesentlich differenzierter sieht als unsere moderne Wissenschaft und Parallelen zur Einheit von Körper, Geist und Seele in der abendländischen Kultur aufweist.


Der Mensch - ein vielschichtiges Wesen
Der Mensch - ein vielschichtiges Wesen

Während wir üblicherweise nur den materiellen, grobstofflichen Körper betrachten und annehmen, dass dieser alle geistigen und psychischen Vorgänge aus sich heraus erschafft, gehen die Upanischaden gleich von drei Körpern aus, die sich kreisförmig umeinander schließen, wie die verschiedenen Körper einer Matroschka. Von außen nach innen setzt sich das menschliche Wesen demnach wie folgt zusammen:


1.)    Sthula Sarira: der grobstoffliche, physische Körper

Setzt sich aus den 5 Elementen zusammen.

Hülle: Annamaya Kosha, die aus Nahrung besteht

 

2.)    Sukshma Sarira: der Astralkörper/ subtiler Körper

Besteht aus 3 Hüllen:

 

1.      Pranamaya Kosha: Lebensenergie/Atem

2.      Manomaya Kosha: Gedankenwellen, Emotionen

3.      Vijnanamaya Kosha: Intellekt, Unterscheidungskraft, Weisheit, Intuition

 

3.)    Karana Sarira: der Kausalkörper

Hülle: Anandamaya Kosha: Glückseligkeit, höchste Freude, das höchste spirituelle Bewusstsein, Einheit mit dem Göttlichen

 

Das Modell von den 3 Körpern und 5 Hüllen arbeitet sich also von außen nach innen vor, wobei die äußerste Hülle rein materiell ist und die weiteren Hüllen dann immer feinstofflicher werden, bis am Ende – im innersten Kern – überhaupt nichts Stoffliches/direkt Greifbares mehr vorhanden ist.


Mit dem äußeren physischen Körper können wir alle ohne Weiteres etwas anfangen. Er bedarf keiner weiteren Erklärung.


Auch der Astralkörper/subtile Körper ist uns noch relativ vertraut:

Wer z.B. Yoga praktiziert, weiß, dass wir unser Energielevel durch Asanas und Pranayama (Atemübungen) erhöhen können.

Gedanken und Emotionen sind ebenfalls Bestandteil unserer Alltagswelt.

Intellekt/Weisheit/Intuition sind uns gleichfalls ein Begriff.


Schwieriger und gleichzeitig richtig interessant wird es beim Kausalkörper. Glückseligkeit und Einheit mit dem Göttlichen liegen unserer alltäglichen Erfahrungswelt meistens eher fern. Überhaupt die Idee des Göttlichen und eines höchsten spirituellen Bewusstseins scheinen zu fernen Welten und längst überholten Zeiten zu gehören.


Bevor Sie sich jedoch dazu entschließen, diese Begriffe den „spirituellen Freaks“ zu überlassen und bei der Weisheitshülle zu stoppen, lade ich Sie dazu ein, uns gemeinsam nochmal genauer anzuschauen, was die Upanischaden mit dem Kausalkörper, unserem innersten Wesenskern, meinen:


„Die Glückseligkeit ist das Herz und Brahman das Fundament.

Jene, die den Herrn bejahen, bejahen sich selbst.

Die Weisen, nicht die Unklugen, realisieren den Herrn.

Der Herr der Liebe entschied: „Mag ich denn viele werden!“

Und in den Tiefen seiner Meditation

erschuf er alles, was existiert.

Meditierend ging er ein in alles.

Er, der keine Gestalt hat, nahm viele Gestalten an;

er, der unbegrenzt ist, zeigte sich begrenzt;

[…]

Er ist es, der allem Wirklichkeit verleiht.

Vor der Erschaffung des Universums

existierte Brahman unmanifest.

Brahman brachte den Herrn aus ihm selbst hervor;

daher wird er der Selbstexistierende genannt.

Das Selbst, ebenjener, ist die Quelle bleibender Freude.

Unsere Herzen sind erfüllt von der Freude, ihn in den

Tiefen unseres Bewusstseins eingeschlossen zu sehen.

Wäre er nicht da – wer würde atmen, wer leben?

Er ist es, der jedes Herz mit Freude erfüllt.

Wenn man das Selbst realisiert, in dem

alles Leben eins ist, unveränderlich, namenlos,

gestaltlos,

dann ängstigt man sich nicht mehr. Bis wir der

Einheit

des Lebens innewerden, leben wir in Angst.

[…]“ (Taittiriya-Upanischad, „Die Upanischaden. Eingeleitet und übersetzt von Eknath Easwaran“, Goldmann 2008)


Hier lesen wir große, erhabene Worte, die etwas Zeit brauchen, um ihre Wirkung zu entfalten.

Was erzählen uns die Upanischaden hier?


Es wird uns von einem unmanifesten göttlichen Urgrund berichtet, aus dem Brahman, „der Herr der Liebe“, hervorgegangen sei. Dieser habe die Welt erschaffen und sei Teil all dessen, was existiert, geworden. Brahman sei somit in uns Menschen eingeschlossen und erfülle uns mit Freude. Das Realisieren, dass unser innerster Wesenskern Brahman sei, nehme uns die Angst, weil er uns mit allem Anderen, das existiert, – mit der Einheit des Lebens – verbinde. 


Unser Kausalkörper, der vom Astralkörper und physischen Körper umschlossen wird, ist also Brahman (bzw. Atman), die Quelle aller Freude und Glückseligkeit.


Der interessanteste Punkt ist hierbei, dass – laut Upanischaden – alles Existierende den gleichen Wesenskern besitzt, da alles Existierende von der gleichen Quelle stammt und diese sogar noch in sich trägt. Eine in den Augen der modernen Wissenschaft unerhörte Annahme, da sie der Prämisse, dass es nur Materie gibt, die alles aus sich heraus belebt, widerspricht.

Lassen Sie uns dies am Beispiel der Erfahrung von Freude genauer unter die Lupe nehmen:



Bin ich Freude oder produziere ich Freude?


Der modernen Wissenschaft zu Folge entsteht Freude im Belohnungszentrum unseres Gehirns, da dort Serotonin, Dopamin und Oxytocin ausgeschüttet werden und ein Hochgefühl in uns auslösen. Dies wiederum führt zu positiven Gedanken, Tatendrang und einem erhöhten Energielevel.


Mit dem Modell der 3 Körper und 5 Hüllen gesprochen kann man also sagen:

Durch bestimmte Vorgänge im grobstofflichen Körper (in diesem Fall im Gehirn) werden Veränderungen im Astralkörper (Energie, Gedanken/Emotionen, Intellekt) hervorgerufen. Dabei kann die Ursache der Freude ebenfalls im Astralkörper liegen, z.B. in Form von Vorfreude auf ein bestimmtes Ereignis, oder auch durch äußere Einflüsse entstehen (z.B. beim Verzehr von Schokolade). Der Kausalkörper (innerster Wesenskern) bleibt dabei unberücksichtigt.


Aus Sicht der Upanischaden entsteht die Freude jedoch gerade im Kausalkörper durch das uns innewohnende Göttliche: „Er [Brahman] ist es, der jedes Herz mit Freude erfüllt.“


Mit dem Bild der Upanischaden gesprochen: Die Freude, die tief in unserem Wesenskern entsteht, strahlt dann von innen nach außen. Die innere Quelle der Freude, die unendlich und vollkommen unabhängig von Geschehnissen im Außen ist, nimmt positiven Einfluss auf unsere Gedanken, Emotionen, erhöht unser Energielevel, führt zur Ausschüttung von u.a. Dopamin im Gehirn und lässt uns förmlich strahlen. 


Vor Freude strahlendes Kind
Vor Freude strahlendes Kind

Interessant ist hierbei, dass die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft das Vorhandensein einer tieferen Quelle der Freude in uns überhaupt nicht ausschließen: Die Existenz einer ewigen Quelle von Freude und Glück in uns verneint die biochemischen Prozesse keinesfalls. Es handelt sich schlicht und ergreifend um unterschiedliche Ebenen der Betrachtung. Nur weil das Gehirn Dopamin ausschüttet, heißt dies noch lange nicht, dass die Ursache der tief empfundenen Freude ganz woanders als im Gehirn sitzen kann.


Die Vermessung der Freude


Einen wichtigen Unterschied machen jedoch die Möglichkeiten der Messbarkeit auf den Ebenen der 3 Körper:


Wie schon oben erwähnt sind wir in unserer vollkommen durch die Technik geprägten Welt daran gewöhnt, für jedes Phänomen ein passendes „Messgerät“ zur Hilfe zu nehmen. Durch entsprechende „Werkzeuge“ lassen sich so fast alle Ereignisse auf körperlicher und zum großen Teil auch auf psychischer Ebene erklären.


Geht es um die Erkundung eines möglicherweise vorhandenen inneren Wesenskerns, kommen wir mit den gewöhnlichen „Werkzeugen“, die ja ebenfalls der physischen Welt angehören, allerdings nicht weiter. So gesehen hat Yuval Harari vollkommen Recht, wenn er sagt, dass man beim Sezieren unseres Körpers nie eine Seele gefunden hat, sondern nur Gene, Hormone und Nervenzellen.


Für den Raum innen müssen wir andere als die technischen Werkzeuge benutzen. Das zentrale Werkzeug hierbei ist das Bewusstsein selbst. Der in der Meditation sich selbst beobachtende Geist blickt letztendlich in seinen innersten Wesenskern. Durch das zur Ruhe bringen der gewöhnlichen Gedankenfluktuationen im Geist wird schließlich die Sicht auf unsere innerste Quelle frei.


Der Blick zum innersten Wesenskern
Der Blick zum innersten Wesenskern

So gibt es zahlreiche Beschreibungen von Yogis, die im Zustand von Samadhi dem Zustand höchster Konzentration – das Einssein mit Allem und die Quelle der höchsten Glückseligkeit erfahren haben. Man sagt, diese Menschen haben die Verwirklichung des Selbst erreicht und den Zustand von Sat-Chit-Ananda (Sein – Bewusstsein – reine Wonne) erlebt. Sie sind sozusagen erleuchtet.



Bin ich erleuchtet?


Ich nehme mir einen Moment Zeit und blicke auf mein bisheriges Leben zurück, lasse meine Mediationserfahrungen sowie besonders glückliche Momente meines Lebens Revue passieren. Habe ich jemals die Einheit meiner selbst mit allen anderen Menschen, die Einheit mit dem großen Ganzen und den Zustand vollkommener Glückseligkeit – vollkommen unabhängig von Geschehnissen im Außen – erlebt?

In aller Deutlichkeit bisher nicht, aber ich glaube, der Quelle der Freude in mir schon öfter relativ nah gekommen zu sein:


Da sind einerseits verschiedene Yoga- und Mediationserlebnisse, in denen ich in all den Turbulenzen und Sorgen des Lebens tiefen inneren Frieden und das Gefühl, dass – trotz aller Widrigkeiten – alles genau so seine Ordnung hat, erfahren habe. In diesen Momenten weiß ich mit großer Sicherheit, dass ich von innen heraus gut getragen bin, dass ich vertrauen kann.


Dann blicke ich zurück auf das unglaubliche, tiefe Gefühl von Glück bei der Geburt meiner Kinder, das eng in Verbindung steht mit der unendlichen, bedingungslosen Liebe, die ich sofort für sie empfand.


Darüber hinaus fühle ich die tiefe Liebe zu allen, die mir nah stehen, und oft ein starkes Gefühl von Verbundenheit zu Menschen, die mir begegnen. 

Manche mögen glauben, dass die Liebe bloß dem Fortbestand der Menschheit dient und selbstverständlich nur durch biochemische Vorgänge im Gehirn hervorgerufen wird. Ich jedoch glaube dies einfach nicht.


Wenn man – wie der kleine Prinz – das Gegenüber mit dem Herzen und nicht mit dem Verstand betrachtet, ist es möglich, tief in das Wesen des Anderen zu schauen. Der Blick der Liebe geht durch alle Äußerlichkeiten hindurch, trifft den geliebten Menschen in seinem Kern, sieht seine vollkommene Schönheit. Worte vermögen es nicht zu beschreiben.


Der Schatz im Innern
Der Schatz im Innern

Es ist wohl leider nicht die alltägliche Einstellung meines Blicks. Der Verstand und die Befindlichkeiten meines Egos treiben mich in andere Gefilde, weg von der Verbundenheit. Aber jene Momente, in denen mein Herz gute Sicht hatte, beweisen mir, dass wir Menschen nicht bloß Materie sind, sondern von innen nach außen strahlende Individuen, die in ihrer ganz eigenen Pracht und Schönheit erkannt werden wollen.


Wer, der schon einmal einem Kind in sein vor Freude strahlendes Gesicht geblickt hat, kann dies leugnen?


Ich denke, man muss nicht im klassischen Sinne „erleuchtet“ sein, um einen Zugang zu den in jedem von uns schlummernden Schätzen, tief im Kern, zu finden. Sie zeigen sich nicht täglich, immer und überall, blitzen aber oft ganz unvermittelt auf und wollen betrachtet werden.

Wer weiß, vielleicht hat doch Brahman, die Quelle alles Lebens, seine Finger im Spiel. Ich sehe kein überzeugendes Argument dafür, dass der Welt kein höheres Bewusstsein zu Grunde liegt, das alles und jeden durchdringt.



Mon Chéri oder Überraschungsei?


Wenn die Upanischaden also Recht haben und jeder Mensch einen Wesenskern besitzt, der ihn mit allen anderen Menschen sowie dem großen Ganzen verbindet und Quelle der höchsten Freude ist, wie genau gestaltet sich dann dieser Wesenskern?

Ist er bei allen Menschen mehr oder weniger gleich – das wäre das Mon Chéri-Modell – oder gibt es doch so einige individuelle Unterschiede wie beim Inhalt der Überraschungseier?


Für das Mon Chéri-Modell spricht:


In den Upanischaden finden sich auf den ersten Blick keine Hinweise auf besonders individuell ausgeprägte Wesenskerne. Es heißt Atman (der im Körper weilende Brahman) und Brahman seien eins, was zunächst darauf schließen lässt, dass alle Atmans gleich sind.


Andererseits sprechen die Upanischaden auch vom Jivatman. Der Jivatman hat die Erfahrungen aus vergangenen Leben in Form von Karma mit in das aktuelle Leben gebracht. Da jeder Mensch in jedem Leben unterschiedliche Erfahrungen macht, bedeutet dies, dass jeder Jivatman unterschiedlich sein muss.


Vorausgesetzt es gibt die Wiedergeburt und Karma, bedeutet dies, dass das Leben jedes Menschen von unterschiedlichen inneren Bedingungen geprägt ist.


An dieser Stelle werde ich nicht auf das umfangreiche Thema Karma und Wiedergeburt eingehen.

Festzuhalten bleibt aber, dass durch die Idee des Jivatman die Upanischaden durchaus Raum für die Individualität des jeweiligen inneren Wesenskerns lassen.


Was für mich persönlich ganz klar ebenfalls für das „Modell Überraschungsei“ spricht, ist, dass die Natur allein in ihrer äußeren Form eine unglaubliche Vielfalt aufweist: Unzählbare Pflanzen- und Tierarten, Milliarden von Menschen, von denen JEDER unterschiedlich aussieht (sogar eineiige Zwillinge weisen optische Unterschiede auf).

Dies betrachtend scheint es mir vollkommen unplausibel, dass der Wesenskern eines jeden Menschen identisch sein sollte.


Meiner Wahrnehmung nach liebt es die Natur, sich in einer möglichst großen Vielzahl zu zeigen. Wieso sollte dann das Innere eines jeden Menschen identisch sein? So viel Langeweile traue ich dem Ur-Bewusstsein (der Quelle des Lebens) nicht zu.


Die Natur liebt die Fülle, die Abwechslung, das Spiel. Dies alles spricht für mich ganz deutlich für die Unterschiedlichkeit im Wesenskern eines jeden Individuums. Dies schließt nicht aus, dass wir trotz unserer inneren Verschiedenheit alle etwas gemeinsam haben, dass wir letztendlich Sein – Bewusstsein – reine Wonne sind.


So wie sich unsere Körper aus dem gleichen Material zusammensetzen und dennoch ganz unterschiedlich aussehen, verhält es sich auf der nicht-stofflichen Ebene vermutlich genauso.


Der Mensch in seinem vollen Potenzial


Sie sind mir nun freundlicherweise bis hierher gefolgt und haben sich mit Sicherheit Ihre eigenen Gedanken zur Existenz (oder in Ihren Augen vielleicht auch Nicht-Existenz) des inneren Wesenskerns eines jeden Menschen gemacht.


An dieser Stelle fragen Sie sich vermutlich, inwieweit das Thema überhaupt für Sie und Ihr eigenes Leben Relevanz besitzt. Auf den ersten Blick scheint es Ihnen vielleicht unbedeutend zu sein, ob wir nun einfach Materie sind oder Teil eines großen Ganzen, bestimmt zur Erfahrung von tiefem Glück und Freude, verbunden mit allen anderen Menschen.


Für mich persönlich ergibt sich daraus jedoch eine immense Bedeutung für die Art und Weise, wie ich mein Leben wahrnehme und gestalte:


Wenn ich und alle anderen nur vergängliche Materie sind, sind wir ziemlich klein und unbedeutend.

Gehen wir jedoch davon aus, dass wir selbst und unsere Mitmenschen Teil eines magischen, großen Ganzen sind, sind auch wir persönlich auf einmal groß und wichtig.


Auf individueller Ebene bedeutet dies für mich, dass ich die Verantwortung dafür habe, mich mit meiner wahren inneren Größe zu verbinden und meinen individuellen Anteil daran nach außen zu kehren. Dies steht eng in Verbindung damit, dass ich meine persönlichen Talente fördere und mit anderen teile. In meinem Fall ist dies zum Bespiel, Yogalehrerin zu sein und auf diese Weise anderen dabei zu helfen, ihr volles inneres Potenzial zu entdecken.


Bei Künstlern verhält es sich genauso. Sei es Musik, Malerei, Schriftstellerei und vieles mehr: Durch die Kunst bringt der Künstler seine Individualität zum Ausdruck und bereichert damit jeden, der sein Werk rezipiert (vergleiche Raymond Unger: „Die Heldenreise des Bürgers“). Der echte Künstler hat dabei immer einen Bezug zur Schönheit und Wahrheit in der Welt, die sie/er in der Lage ist, durch ihr/sein Kunstwerk anderen zu vermitteln.


Dabei muss man kein Mozart oder Goethe sein, um durch die eigenen Talente die Schätze in dieser Welt für andere erfahrbar zu machen. Viele Wege führen nach Rom.


"Ich kehre meinen innersten Wesenskern nach außen."
"Ich kehre meinen innersten Wesenskern nach außen."

An meinem eigenen Beispiel und dem des Künstlers wird deutlich, dass die Annahme eines inneren Wesenskerns, der uns mit dem großen Ganzen verbindet, immer in Verbindung mit der Sichtweise auf und den Umgang mit unseren Mitmenschen steht: Nicht nur ich selbst bin auf einmal groß und wichtig in dieser Welt, sondern auch alle um mich herum sind ihrem Wesen nach Teil von etwas Höherem. Dementsprechend verändert sich auch der Umgang meiner selbst mit den Menschen um mich herum: Achtsamkeit, Respekt und Zuneigung den anderen gegenüber ergeben sich daraus ganz automatisch. Zwar leben viele Menschen (noch) fernab ihres vollen Potenzials, da sie nichts davon wissen – unsere von Technik und Materialismus im weitesten Sinne geprägte Welt hat es uns abtrainiert, unsere wirkliche Größe überhaupt nur zu erahnen. Dennoch sind meine Einstellung und mein Verhalten anderen Menschen gegenüber wesentlich positiver, wenn ich davon ausgehe, dass wir alle von der gleichen Quelle kommen und das Licht derselben immer noch in uns tragen – auch wenn es gerade nicht eingeschaltet ist.


Ein weiterer Gedanke, der unsere Sicht auf Leben und Tod verändert, ist, dass unser innerster Wesenskern womöglich unsterblich ist; die Upanischaden gehen davon aus. Dies führt uns zu einem weiteren großen Themenkomplex, nämlich dem möglichen Leben nach dem Tod und zur Wiedergeburt. Dem werde ich mich in einem gesonderten Artikel widmen. Festzuhalten bleibt, dass die Annahme des Weiterlebens unseres innersten Selbst nach unserem physischen Tod, die Angst vor dem Tod mindert. Darüber hinaus ergeben sich durch die Annahme der Wiedergeburt und der Existenz von Karma direkte Konsequenzen für unser jetziges Leben: Wenn unsere auf dieses Leben folgende Form der Existenz tatsächlich von Erfahrungen und Taten in diesem Leben geprägt ist, hat dies selbstverständlich großen Einfluss darauf, wie wir uns entscheiden, unser Leben hier und jetzt, jeden Tag, jede Stunde und jede Minute zu verbringen:


Was ist mir wichtig in diesem Leben? Welche „Baustellen“ gilt es zu bewältigen? Mit welchem Gefühl möchte ich auf dem Sterbebett auf mein Leben zurückblicken?


Zusammenfassend lässt sich sagen:

Die Prämisse, dass wir mehr sind als nur Materie lädt uns dazu ein, unser Leben aktiv in die Hand zu nehmen, unsere innere Größe und Schönheit nach außen zu kehren und unseren Alltag vor dem Hintergrund eines positiven Welt- und Menschenbildes zu bestreiten.


Ich schließe mit einem Zitat des griechischen Philosophen Heraklit:


„Die Natur liebt es, sich zu verbergen.“  


In diesem Sinne ermuntere ich Sie dazu, Ihrer eigenen Natur bzw. Ihrem innersten Wesenskern Schritt für Schritt auf die Spur zu kommen und ihn von innen nach außen strahlen zu lassen.


 
 
 

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